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Zur Praxis der Beratung
1. Allgemeines
“Mit der Inanspruchnahme eines Beraters trifft der Ratsuchende selbst die alles in Gang setzende Entscheidung, wenn er sich als beratungsbedürftig erklärt. Indem er Hilfe
sucht, dokumentiert er, dass er in einem bestimmten Problem in seinem Entscheiden und Handeln nicht ohne Hilfe zurechtkommt. In seiner Beratungsbedürftigkeit ist er nicht gänzlich entscheidungs- und
handlungsunfähig, weil er sich sonst nicht für die Beratung entschieden hätte. Er erwartet, dass er sein Problem unter Einsatz psychologischen Wissens und psychologischer Verfahren gemeinsam mit dem Berater lösen
kann, und beweist damit seine Beratungsfähigkeit” (1).
Das von Ratsuchenden dargestellte Problem will in seinen Dimensionen erfaßt werden, d.h. es muss analysiert und dann verstanden werden innerhalb der
Lebensbezüge des Individuums (2). Die Erkundung eines Problems innerhalb eines Aktionsfeldes (3) im Zusammenhang mit den Beschreibungen von Folgen des Problems lässt erkennen, ob überhaupt eine Beratung innerhalb
des Praxisbereichs der Beraterin oder des Beraters möglich ist (fachliche Kompetenz) und, wenn ja, welche Art von Beratung notwendig ist (sachliche Kompetenz).
Bei mehrdimensionalen Problemen ist die volle Anamnese angezeigt: Biographie: Die Ratsuchenden konzentrieren sich dabei auf sich selbst, ggf.
können erste Zusammenhänge im Hinblick auf das Problem erkannt werden; Krankengeschichte: Hier können Zusammenhänge mit organischen Symptomen erkannt werden, so dass ggf. eine gründliche medizinische
Untersuchung und Differentialdiagnose indiziert ist (4); Kindheitserlebnisse (5).
Ziel dieser Anamnese ist die selbstkritische Reflexion der fachlichen Kompetenz und für die sachliche Kompetenz die Erarbeitung des unterbewussten Systems
mit Hilfe der Lebensstilbildtheorie. Gleichzeitig lernen sich beide PartnerInnen dabei kennen, was für die Beziehung in der Beratung von entscheidender Bedeutung ist. Deshalb spielen die Art des Erfragens, die Ruhe als Raum für Antworten und die Erfahrung mit den gerafften Angaben zur Biographie eine wichtige Rolle. Die Beratenden können ihr Gehör schärfen, auch ihren Blick auf Mimik und Gestik, um das Gegenüber in seiner Individualität zu erfassen. Die Ratsuchenden können sich entscheiden, ob sie dem Gegenüber ihr Vertrauen schenken möchten, indem sie selbst beobachten und erfahren können, wann und wie die Beratenden ihren Inhalten Verstehen entgegenbringen.
Wenn die Vergangenheit bei den biographischen Angaben der Ratsuchenden aufgezeigt wird, so ergeben sich daraus bereits weitergehende Fragen nach dem Wie,
dem Wieso und dem Wofür. Doch die Beratenden müssen unterscheiden zwischen Fragen der Neugier, die den eigenen Gedankengang verlieren lassen, und den Fragen, die sich logisch ergeben, die der andere also eigentlich
sich selbst stellt, ohne sie zu formulieren. Nur bei diesen Fragen stoßen wir tatsächlich auf Wesentliches in der Biographie, ohne dass uns unsere eigenen Vorausurteile den Blick versperren. Ungeduld würde das
Gegenüber in eine Situation drängen, die an die biographischen Details gekoppelten Stimmungen verbergen zu müssen und damit sein “Sich-selbst-Verstehen” zu behindern.
Wir müssen uns davor hüten, bereits in der biographischen Phase der Anamnese Lösungsmöglichkeiten für vergangene Konflikte anzubieten, was sowieso nur im
Stil des Konjunktivs geschehen kann; wir würden sonst zu Fahrlehrern auf einem Parcours, den nur die Ratsuchenden wirklich kennen.
Wir folgen bei der Erfassung eines Problems dem Ansatz, “der von Ursachenzuschreibungen ausgeht” (6). “Eine Möglichkeit für die Berater,
Fehlschläge zu vermeiden, wäre dann darin zu sehen, dass sie nicht nur das Wissen, sondern auch gefühlsmäßige Faktoren berücksichtigen, die mit den Ursachenzuschreibungen beim Verständnis der Lebensereignisse
zusammenhängen” (7). Hierbei ist die strikte Trennung von Ursachenbeschreibung und Schuldzuteilung durchzuhalten. “Die Art der zugeschriebenen Ursache entscheidet die Frage, ob überhaupt eine Änderung
möglich und zweckmäßig erscheint.
Bei der Annahme einer nicht änderbaren Ursache hat die Beratung keinen Ansatzpunkt für Veränderungen, solange Ratsuchende an ihrer Überzeugung
festhalten. Jeder Vorschlag eines Änderungsversuchs wird auf Ablehnung stoßen” (8). Hiermit ist die Trennung von Effekt und Intention angesprochen (9). Die Blickrichtung bleibt “auf die Voraussetzungen
bei Ratsuchenden gelenkt, auf ihre Sichtweisen und Fähigkeiten, sich mit dem Anliegen auseinanderzusetzen und Problemlösungen zu erreichen” (10).
2. Grundzüge beraterischer Relationen
Grundlage jeder adversiven Beratung ist das Jasagen zur Menschlichkeit des Menschen. Noologisch orientierte Beratung beruht zusätzlich noch auf dem Wissen um die Heilungstendenz in
jedem Menschen (11). Trotz der Andersartigkeit jedes Individuums sehen die Beratenden die Ratsuchenden gerade auch durch die Ähnlichkeit des Menschlichen als gleichwertig an. Beratung schließt nicht nur Sehen und
Hören mit ein, sondern durch verbale Deutungen und Zeigungen von Zusammenhängen auch ein Handeln. “Eine Psychologie, die nur zuschaut (gesetzt, es gebe sie), könnten wir als Wissenschaft nicht anerkennen. Nur
der Handelnde kann es (das Wesen des psychischen Vorganges) angemessen erfassen, begreifen ...” (12).
Alle Ratsuchenden wollen gerade auch in ihrer Einzigartigkeit erkannt werden, selbst wenn sich ihre Wahrnehmung oft mit der Empfindung des
Allein(gelassen)seins verbindet. Sie wissen um die Begrenztheit ihres Wissens, ihrer Handlungsfähigkeit oder auch ihrer Wahrnehmungsfähigkeit und wünschen sich nichts so sehr, wie teilzuhaben an dem erwünschten
“Überwissen” der Beratenden. Doch erweist sich eine adversive Zusammenarbeit in dem Pari des Wissens: Die Beratenden wissen zwar aufgrund ihrer fachlichen wie auch sachlichen Kompetenz eine ganze Menge,
doch wissen sie nichts über die Ratsuchenden und die Zusammenhänge ihres Problems. Hier gilt es, das Selbstverständnis der Ratsuchenden im Hinblick auf ihre Selbstvorstellung durch Zusammenarbeit zu korrigieren, so
dass das beratende Gespräch stets in der Dimension der Freiheit stattfinden kann. Den Ratsuchenden möchte deutlich werden, dass der Unterschied nicht so sehr bloß auf unterschiedlichen Wissenszuständen beruht,
sondern in der Distanz zu dem Problem, die Beratende haben. Nur so kann verhindert werden, dass die Problematik nicht noch durch verweigerte Nähe in der Gleichwertigkeit vergrößert wird.
Die Beratenden müssen den Ratsuchenden gegenüber die Situation berücksichtigen, dass ein Erkanntwerden die Hilflosigkeit noch vergrößert, wenn sich nicht
auch die Beratenden zu erkennen geben. Es gehört zum Kernbereich des Beratungsgespräches, dass die Ratsuchenden im Aha-Erleben erfahren können, dass sie die Lösung eigent-lich schon gekannt haben, dass sie ihnen
irgendwie bekannt vorkommt. Nur so ist die Lösung eines Problems durch die Ratsuchenden selbst und genau mit ihren eigenen Möglichkeiten für sie durchführbar. Um dieses Ziel zu erreichen, sind beide auf eine
Zusammenarbeit angewiesen, in der die Erarbeitung von Wissen um die wahren Zusammenhänge eines Problems durch Humor und durch die Trennung von Person und Sache (die Person ist nicht ihr Problem, sie hat eines oder
mehrere) und durch die Verabwesung der Schuldfrage (VA-Folgen sind nicht Folgen persönlichen Versagens, und ein Konflikt ist keine Krankheit, schon gar keine ansteckende) das Besondere am Problem so aufzeigen kann,
dass Ratsuchende an ihm lernen können, sich selbst zu verstehen.
Konfliktorientiertes Beraten wird bei Ratsuchenden auch verdrängte schmerzende Ereignisse aus der Kindheit, abgelehnte Anteile des eigenen Lebensstiles
und unverarbeitete Ereignisse aus der eigenen Vergangenheit aufdecken. Um nicht nur über das zumutbare Maß einer solchen Analyse entscheiden zu können, sondern auch über die Tragfähigkeit des erwerbbaren Wissens,
müssen die Beratenden nicht nur auf ihr Wissen und ihr Können zurückgreifen können, sondern auch auf ihre Bearbeitung eigener Lebensstileigentümlichkeiten und Gefühle. Deshalb setzt die Teilnahme an der Fort- und
Weiterbildung eine Persönlichkeitsanalyse voraus. Nur so können die Lerninhalte von Anfang an auch auf die Arbeit an und mit sich selbst bezogen werden. Natürlich setzt die beraterische Tätigkeit eine Lehranalyse
voraus, wie auch die Begleitung bis zum Abschluß durch Supervision (Kontrollanalyse) gewährleistet sein muss.
Die Verwendung der Sprache im Beratungsgespräch macht es notwendig, sich klarer und prägnanter auszudrücken, deutliche Bilder, verständliche Metaphern zu
verwenden, um die zwischen Ratsuchenden und Beratenden unterschiedliche affektive Resonanz von Wörtern erfassen zu können. Deshalb gehört zur Weiterbildung auch die Möglichkeit, linguistische Phänomene und auch
Regeln (z.B. bei sogen. Sprachspielen) kennen und “mund”-haben zu lernen.
Die Möglichkeit des ironischen Sidesteps, jenes humorvolle (und eben nicht spöttische) Neben-sich-Stehen, und der humorvolle Blick auf die
Fähigkeit der Ratsuchenden, dieses spezielle Problem entwickelt zu haben, geht einher mit überraschenden Wahrnehmungen von Bedeutungsnuancen von Wörtern. Auf diese Weise können vom Unterbewussten des Geistes
gesteuerte Denkblockaden aufgehoben werden: Das Unterbewusste des Geistes (das Frontalhirn) kennt nicht alle Nuancen, die das Bewusstsein erfassen kann, es kennt nicht alle Sprachspiele, schon gar nicht den
humorvollen Umgang darin. Es ist zu beobachten, dass bei einem in Deutsch (oder auch in anderen Sprachen) geführten Beratungsgespräch mit eine(r)m sogen. Ausländer(in) Blockaden erst dann verstärkt auftreten, wenn
diese Menschen das in deutscher (oder in einer anderen) Sprache Erfaßte für sich in ihre Muttersprache übersetzen. Es gilt also, besonders auf die Atmosphäre zu achten, die mit wichtigen Begriffen bei Ratsuchenden
verbunden ist.
In Anlehnung an Joseph Weiss (13) kann gesagt werden: Menschen, die eine Beratung möchten, die über ein freundschaftliches Gespräch hinausgeht, sind
motiviert genug, bisherige Vorstellungen auch über Bord werfen zu wollen. Sie arbeiten daran eben auch mit dem beratenden Menschen, indem sie ihre Meinungen an ihm ausprobieren. Oft genug verbirgt Scham die freudige
Erregung dieses Ausprobierens, bei Menschen weiblichen Geschlechts die Scham gegenüber den eigenen Gefühlen, bei Menschen männlichen Geschlechts eine Scham in Verbindung mit der Idee, dass ein Fehler unmännlich
mache. Diese Scham führt dazu, dass ein ratsuchender Mensch sich auch verbirgt, wir sagen: sich verrätselt. Die Beratenden sollen das Rätsel lösen und sollen es doch wieder nicht. Die Ambivalenz in dieser
Einstellung spiegelt jedoch das Eigent-liche im Individuellen der Ratsuchenden wider: Sie sind sich selbst fremd gerade in der problematischen Situation und ahnen doch, dass ausgerechnet hierin ihr Ureigenes zur
Sprache kommen darf. Auf dieses Verrätselte müssen wir achten, handelt es sich dabei doch oft genug um die Zeichen der Anmut individuellen Menschseins. Das will heißen: Hinter der Problematik müssen wir die
Schönheit von Menschen entdecken, also eben nicht dort, wo sie sie selbst in ihrer augenblicklich begrenzten Sicht auf sich selbst vermuten.
Wir müssen darauf achten, was aus dem Problem entstehen möchte an Klarheit, welche Lösung im Problem selbst aufleuchtet, wenn wir eben nicht nur auf das
Problem schauen. Eine bloß nüchtern pragmatische Betrachtungsweise eines Problems belässt uns sowohl in der Rolle von Zuschauer/inne/n als auch in der Rolle scheinbar unempfindsamer Funktionäre in Sachen Empathie.
Gerade das, was die Beratenden nicht verstehen, birgt den Schlüssel zur Tür der eigenständigen Lösung der Ratsuchenden: Nur diese kennen sich so gut wie kein anderer. Durch diese Sichtweise lässt sich verstehen,
dass der Ursachenzusammenhang eines Problems eine Leidensgeschichte offenbart, die in sich die Heilungstendenz als Entfaltung des Inhaltes von Hoffnung gegen allen Augenschein aufzeigt. Hier ist der Ansatz für
zukünftige Möglichkeiten zu sehen, in dieser unveränderlichen Erfahrung aus dem Fundus der Vergangenheit, viel schwerwiegendere Probleme überwunden zu haben. Und eben von diesen können die Ratsuchenden lernen.
Solche Erfahrungen widerfahren in einer lebendigen Stille, in Momenten des Innehaltens, ohne muskulöse Form der Gewalt in Gestalt von Worten und ohne
nervale Form der Gewalt in Gestalt einer bedrückenden, humorlosen Atmosphäre. Die Einfachheit einer Lösung ergreift beide Partner im Beratungsgespräch, und beide können verstehen, wie leicht es deshalb ist, diese
Einfachheit durch einfache Zweifel zu überdecken, durch Hinterfragen im “Ja, aber” oder in den konjunktivischen Redewendungen des “was wäre denn, wenn”. Die Einfachheit der Lösungen
entspricht dem frühkindlichen Zusammenhang der Entstehung von Lebensstilen; das Überdecken durch komplizierte Gedankengänge entspricht dem sogenannten Erwachsenwerden, also eigentlich der anerzogenen Ummäntelung von
Erfahrungen, deren Inhalte nicht für wahr genommen werden dürfen.
Die Suche nach den immanenten Lösungen in den Problemen folgt dem Gedanken der Einfachheit ihrer Entstehungszusammenhänge und geht einher mit einfachen
Fragen, die Antworten anbieten und doch genügend Auswahl an Antwortmöglichkeiten ent-halten. Eine Frage der Beratenden kann oft wirkungsvoller den eigenen Handlungsspielraum der Ratsuchenden darstellen, als eine
Antwort, die aus dem Fundus des Bisjetzigen der Beratenden kommt.
Die Fragen der Ratsuchenden müssen in ihrem individuellen Bedeutungszusammenhang erfaßt werden und sind dann erst richtig verstanden, wenn ihr
Zusammenhang deutlich ist. Dann erst können die Beratenden eine Stellung beziehen, die der Kritik der Ratsuchenden gegenüber zugänglich ist. Gerade die Stellungnahme in bezug auf traumatische Erlebnisse der frühen
Kindheit, die sich im gegenwärtigen Konflikt widerspiegeln, gibt den Ratsuchenden die Möglichkeit, das Traumatisierende in einer Erfahrung zu erfassen und die Folgen zu verstehen, damit nun im Erwachsenenalter
andere Antworten auf Verwundungsassoziationen möglich werden.
Diese Stellungnahme ist als Bestätigung der Position der Ratsuchenden gleichzeitig die Möglichkeit zur Öffnung, zur Sicht auf andere Möglichkeiten, mit
den problemwirkenden Herausforderungen umzugehen. Das problembehaftete Verhalten der Ratsuchenden möchte nicht nur korrigiert werden: es möchte auch verstanden werden, auch von dem/der Ratsuchenden selbst! Nur so
kann eine mitmenschliche Wirklichkeit Raum gewinnen in der Beratung, die nicht auf ein Gefälle zuungunsten der Ratsuchenden zielt.
In einer unlösbar scheinenden Konfliktsituation reagieren Menschen erst einmal mit einer Selbstentwertung. Sie verwerten die defizitäre Situation, indem sie eigene Anteile
übersehen (verwerfen), und halten Ausschau nach einem Erlöser. Die hierin erkennbare Projektion bezieht sich in aller Regel auf Menschen männlichen Geschlechts und auf die Erwartung eines von diesen angebotenen
externen Paradieses. Darin zeigt sich die Schwere einer durch einen “Vater” widerfahrenen Verwundung in aller Deutlichkeit (14).
Diese Selbstentwertung drückt sich auch in der Akzentuierung bei den Ausführungen der Ratsuchenden aus. Die Beratenden haben die Aufgabe, diesen Wertungen
die Basis zu entziehen, indem sie den Unterschied zwischen “anders sein” und “wert sein” deutlich machen. Die moralistische Unterscheidung zwischen Gut (als ein Mehrwertsein) und Böse (als
ein Minderwertigsein) ist anerzogen und ohne realen Inhalt in bezug auf den Wert eines Menschen. Das Jasagen zur Menschlichkeit des Menschen beinhaltet die Gleichwertigkeit aller Menschen und verhindert als Effekt
diese ver-götzlich(end)e Möglichkeit, die den Beratenden übermenschlich erscheinen lässt und die Ratsuchenden entmutigt, in diesem Falle starr werden lässt in Anbetracht der Bestätigung ihrer negativen
Selbstvorstellung.
Das Wissen um die VA-Zusammenhänge und deren Zusammenhang mit dem erlebten Konflikt bietet den Ratsuchenden die Möglichkeit, sich selbst anzunehmen -
einschließlich ihrer Probleme, wobei sie sich dabei dann eben nicht mehr mit ihnen zu identifizieren brauchen. Sie gewinnen Distanz zum Konflikt, wie die Beratenden ebenfalls. Und doch bleiben beide in einer Nähe
aufeinander bezogen, die Raum lässt für die Wahrnehmung ihrer beider Freiheit.
Viktor von Gebsattel sprach einmal vom “nihilistischen Zug im Menschen”. Wir nehmen diesen Hinweis als Sprachspiel auf und sagen: Mit diesem
Zug ist eine Ankunft bei sich nicht möglich, doch das weiß nur der Mensch, der ihn bereits kennt. Er ist die Folge der in der frühen Kindheit erfahrenen Ohnmacht, die zwischen Unterwerfung (Erhalt der
Versorgungslage) und Freiheit nicht wählen durfte und so die eigenen Anteile zu einem “nihil” werden ließ, zu einem “rien ne va plus”. Die im Erwachsenenalter möglich gewordene Akzeptanz
dieser traumatischen Situation enthebt von der Sorge, wie es wohl weitergehen mag; die Distanz der Geschichte zeigt sich in der Distanz, die im Verstehen möglich ist. Und in ihr zeigt sich Raum für andere
Möglichkeiten des Umgangs. Dieser Raum bietet gleichzeitig eine Begrenzung für den Konflikt, so dass eine Konfliktbewältigung durch die Grenzerfahrung als Sinnerfahrung möglich wird. In diesem Raum können
Ratsuchende auf die Erfüllung frühkindlicher Wünsche verzichten, um ihre jetzigen Möglichkeiten zu erfassen und diese durch Probieren und Üben in ihre Handlungsfähigkeiten zu integrieren. Durch die Annahme des
Augenblicks ihrer Gegenwart lernen sie, sich auf eine Weise selbst anzunehmen, die ihnen bisher verborgen gewesen ist. Dies bildet die Voraussetzung für ihre Entscheidungen, mit den Konflikten umzugehen, selbst wenn
sie dabei Harmonieverluste im Umgang mit Menschen in Kauf nehmen müssen, denen gegenüber sie zuvor willfähriger gewesen sind.
Das Widerfahrnis der Selbstannahme lässt das Ja zur Menschlichkeit des Menschen wirken, ohne dass eine zustimmende Antwort von anderen abgewartet werden
muss. Den Ratsuchenden erscheint dies, als steigerten sich ihre Schwierigkeiten noch (15); doch nehmen sie nur mehr wahr, was wirklich um sie herum geschieht, also auch all jenes, was sie geflissentlich im Sinne
ihres unterbewussten Systems übersehen mussten. Die vergrößerte Wahrnehmungsfähigkeit wird zuerst also nicht als Hinweis auf eine erweiterte Handlungsfähigkeit genommen, sondern kann sogar Wut hervorrufen, da die
scheinbaren Annehmlichkeiten des alten Lebensstils nicht mehr zu erwarten sind. Wut ist Mut, der noch nicht weiß, wohin er will. Diese Wut ist auch für die Ratsuchenden eine Herausforderung. Die Projektion auf die
Beratenden lässt diese schlimmer erscheinen als alle verwundenden Menschen in der Vergangenheit. Dies ist eine Entscheidungssituation für beide, in der ganz deutlich die Freiheit aufleuchtet, sich nun so oder so zu
entscheiden. Der Augenblick des Zögerns weist auf die Unverwundbarkeit der Freiheit (16).
Der Verzicht auf Erfüllung frühkindlicher Wünsche ist auch immer ein Verzicht auf Illusionen und per effectum Verzicht auf Abwehrhaltungen gegenwärtigen
Herausforderungen gegenüber. Dies bedeutet immer auch ein Wagnis, das das “trauen” voraus und das “lösen” hernach hat. Hier treffen sich die Situationen der GesprächspartnerInnen in ihren
eigentlichen Gemeinsamkeiten.
Da alle Ratsuchenden für alle Beratenden nicht einfach nur neu, sondern eben auch anders sind, müssen auch die Beratenden das Wagnis einer anderen Sicht
auf sich nehmen und der Routine wehren. Die Lebensstilbildtheorie ist eine Möglichkeit, den Weg zum Individuum zu finden, sie bietet jedoch weder Schablonen noch Schemata, die aus der Theorie übertragen werden
könnten auf die individuellen Ratsuchenden. Die Situation des Beratungsgesprächs ist jeweils unberechenbar, da die Führung des Gesprächs eben nicht identisch ist mit der Führung der Ratsuchenden. Deshalb sind
Beratende angewiesen auf die Kenntnis der Inhalte des Selbstbewusstseins der Ratsuchenden, die eine Basis für dessen oben bereits erwähnte Lernfähigkeit bilden. Hier treffen sich die Konzepte der Ermutigung (Alfred
Adler) und der Sinnfrage (Viktor Frankl): Nicht alles, was Ratsuchende können, ist dem Mut zuzuordnen, sonst verwechseln wir Mut mit Leichtsinn; nicht alles, was mutig scheint, ist auch sinnvoll. Um Mut in seiner
Dimension der Treue (als Jasagen zur Menschlichkeit des Menschen) einer Sinnerfahrung zukommen lassen zu können, bedarf es der Erfahrung des Richtigseins, ggf. also der Aufhebung des Sowieso-Fatalismus (17).
Gleichzeitig wird deutlich, dass auch die Beratenden in der Lage sein müssen, sich selbst in Frage stellen zu lassen durch die Andersartigkeit, durch die Neuheit der Konfliktsituation ihres individuellen Gegenübers.
Hier liegt die Grenze der Autorität, die auch nicht durch noch so große fachliche und sachliche Kompetenz aufgehoben werden kann. Je klarer die Ratsuchenden dies erkennen, um so mehr gewinnen sie an bewusster
Selbständigkeit; je eher sie dies erkennen, desto größer wird ihre Bereitschaft, sich von der Identifizierung mit ihren Problemen zu lösen. Dabei sind Ratsuchende auch in der Lage, ihre von Sorge, vielleicht sogar
manchmal von Trauer begleitete Wahrnehmung der Notwendigkeit, Illusionen aufzugeben, in Handlung umzusetzen, also Wut in Mut umzuwandeln, um sich neue Lebensräume zu erschließen, da ihnen die im Konflikt erkennbare,
jedoch zuvor unbewusste Absicht offenbar wird, ohne sich schämen zu müssen, noch nicht einmal dafür, nicht schon eher und von allein den Zusammenhang verstanden zu haben.
Die Bereitschaft der Beratenden, sich in ihrem Bisjetzigen in Frage stellen zu lassen, lässt sie auch die Grenze ihres Könnens erkennen und mitteilbar
machen (18). Der menschliche Umgang in der Beratungssituation ist zwar auch von definierbaren und erlernbaren Regeln geprägt, doch eben auch durch die reale mit-menschliche Gegebenheit personhafter Existenz und
durch die Notwendigkeit, sich neuen Erfahrungen gegenüber zu öffnen, die die Bereitschaft weckt, die erlernten Regeln um der geistigen Öffnung willen zu durchbrechen: “Überall dort, wo wir auf Grund erlernter
Methoden mit einem Menschen sprechen, kommen wir auf jenen unbedingten Grund, wo er unseresgleichen ist. Beides ist wahr, die Notwendigkeit der Technik und die Offenheit auf einen Geist, der alle technischen Regeln
durchbricht” (19). Wer die Technik vergottet, stellt sie und auch sich selbst über andere Menschen. Beratung ist genausowenig l'art pour l'art wie jeder andere Lernprozeß. Hier schließt sich der Kreis:
Die Ratsuchenden haben einen Anspruch auf das Jasagen zur Menschlichkeit des Menschen und damit Treue zum i-Punkt, zum heilen Kern der Person und zur Heilungstendenz. Das schließt ein, dass nicht die scheinbare
Dringlichkeit eines Problems die Füllung der Zeit diktiert - da bliebe weiterhin kein Platz für Ratsuchende -, sondern dass die Annahme der Zeit sich in der Geduld zeigt, die Menschen in ihrer Problematik duldet.
Geduld weckt die Zuversicht, das Problem doch noch selbst lösen zu können, trotz der durch Selbstabwertung angefärbten problematischen Situation. Erst
wenn sich beide PartnerInnen gemeinsam als Gegenüber der Zeit erleben, werden sie der Lösungsmöglichkeiten ansichtig. Sich diese Zeit zu lassen, zwingt niemanden in vorschnelle Überlegungen, vielmehr verkürzt Geduld
die Beratungszeit dadurch, dass in der Duldsamkeit Raum für die Annahme des Augenblicks und damit für die Selbstannahme ist - und diese bringt die selbständigen Möglichkeiten zur Lösung von Konflikten zur Geltung.
Mitunter wird ausreichende Zeit erst im Jenseits erwartet und dabei der Augenblick im Diesseits übersehen. Diese Entwertungen des Augenblicks sind die Kehrseite der mit den Konflikten verbundenen Selbstentwertung.
Der Satz “Ich kann nicht” konstruiert zusätzlich eine Not, die die eigentlich erfahrene überdecken und gleichzeitig entschulden soll. Die
Verabwesung der Schuldfrage lässt jedoch der Sinnfrage ihren Raum, in dem die Richtigkeit der eigenen Existenz erfahrbar und der Augenblick annehmbar wird. In ihm zeigt sich, was umgangssprachlich dann
“Ergreifen des Augenblicks” genannt wird: Die Sicht des Augenblicks öffnet den Blick der Augen für die Raumanteile, die konfliktfrei ausreichend Stoff für die Lernfähigkeit liefern. “Annahme heißt,
dass man lernt, selber den Grund ... einer Not, der nicht im Widerspruch zu beseitigen ist, von der Liebe umfangen zu sehen” (20).
3. Zur Deutung
Eine Deutung ist zwar intendiert, doch ihre Effekte können nicht von Deutenden ausgelöst werden, Ratsuchende entscheiden selbst, wie sie mit einer Deutung
umgehen möchten und wie sie sie für sich verwenden möchten. Dieser Umgang und die Verwendung können dann wieder Gegenstand einer Deutung werden, doch erst dann, also niemals im Vorgriff. Eine angemessene Deutung ist
nur diejenige, die den Ratsuchenden eine Möglichkeit bietet, mit Hilfe ihres Denkens einen neuen geistigen Raum zu erschließen, der ihnen anschaulich ist und zu dem sie Stellung beziehen können: Sie müssen jederzeit
die Möglichkeit haben, eine Deutung abzulehnen. Erst wenn die Ratsuchenden eine klare Vorstellung von diesem Raum haben, sind sie auch in der Lage ihn (durch anderen Umgang als bisher) zu betreten.
Doch der Einlaß in die Konkretion benötigt eine mehrdimensionale Erfahrung: Deutungen machen es möglich, dass Ratsuchende sich nicht nur an evtl.
verdrängte Inhalte ihrer vergangenen Erfahrungen erinnern, sondern dass ihnen auch Zusammenhänge plötzlich bewusst werden, zu denen sie zuvor keinen Zutritt hatten. “Erst jetzt kommen ihm viele Einzelheiten in
den Sinn, die das Wesen vergangener Situationen ausmachten und welche früher kein gemeinsames Bezugssystem und somit keine <<Bedeutung>>, keine erinnerungsfähige Gestalt hatten. Viele Zusammenhänge, etwa
zwischen einer häufigen demütigenden Bemerkung des Vaters, späteren <<grund-losen>> Angstzuständen des Patienten und seiner jetzigen Angst in der Übertragung, zwischen seiner Tendenz, die Mitmenschen zu
benachteiligen, und einer ähnlichen Haltung der Mutter, die den Sohn insgeheim entwertete und dann im ehrgeizigen Vergleich mit anderen Buben kompensatorisch überbewertete ... Die einzelnen Fakten seines Lebens
waren zwar stets da. Sie waren nicht in dem Sinne verdrängt, dass er sie nicht mehr wusste, wohl aber in dem anderen Sinne verdrängt, dass keine erhellenden Zusammenhänge die Fakten miteinander verbanden, so dass
diese ein unscheinbares Dasein in der Rumpelkammer der Erinnerung fristeten” (21).
Da der Aufbau des unterbewussten Systems (des Lebensstils) in einer Zeit geschieht, in der nicht die Logik zur Abwehr von erneuten Verwundungserfahrungen
weiterhelfen konnte, sondern mehr das Ausprobieren von Methoden mit Hilfe von “Versuch und Irrtum” oder auch durch “Imitation”, haben die antrainierten aversiven Verhaltensweisen zwar ihren
Sinn (als Überlebensmethode), doch ist dieser dem Bewusstsein nicht zugänglich. Dadurch entwickeln sich nach der vorlogischen Phase weitere Gestaltungen von Verhalten, die vor allem dem Zweck dienen, peinliche,
Sorgen bereitende, Angst machende Verhaltensweisen, die an sich selbst beobachtbar sind, zu tarnen, zu verpacken oder gar auf andere mit Hilfe einer Projektion zu übertragen. Da der logische Bezug fehlt, wird auch
dies noch als eigenes Defizit gedeutet, dass eigenes Verhalten unverständlich erscheint. “Peinliche Einsichten, Sinnzusammenhänge, Schlußfolgerungen, die an sich naheliegend waren, mussten unter der Einwirkung
der Angst vom Bewusstsein ferngehalten werden” (22).
Manche Deutung erscheint so überraschend in ihrer Einfachheit, dass diese Überraschung, das Wundersame an ihr, mit einem “sich wundern” auch
Zweifel gebiert. In ihm zeigt sich noch die Peinlichkeit, die dem eben beschriebenen zusätzlich “erdachten” Defizit anhaftet. Es ist deshalb leicht möglich, gerade eine solche einfache Deutung als Anlaß
zu nehmen, sich schuldig dafür zu fühlen, nicht eher darauf gekommen zu sein und möglichst auch ohne Hilfe.
Erkenntnisgewinn bedeutet immer ein Übertreffen bisjetzigen Wissens. Wer dies moralisch wertet, etwa als ein “Besserwerden”, muss (als
logische Folge) den Status des Bisjetzigen negativ einstufen, sich also als noch nicht richtig wähnen. Der Erkenntniszuwachs wird dadurch bedroht, er wird vermieden werden, um den bisjetzigen Zustand als “doch
sehr gut” und damit sich selbst als “gut dastehend” anschauen zu können. Wenn einer Erkenntnis nicht mehr ausgewichen werden kann, wird sich geholfen mit der nicht nachprüfbaren Behauptung
“das habe ich gewusst” bzw. “geahnt” (siehe auch “Naivschalter”) (23).
Die Deutung - wir verwenden diesen Begriff ab jetzt stets im adversiven Sinne - eröffnet in der Gegenwart eine neue Perspektive, aus der heraus die
Vergangenheit anders geschaut werden kann. Dadurch öffnet sich die Zukunft als ein Raum, in dem Menschen sich nicht um ihre Richtigkeit zu sorgen brauchen. Die Vergangenheit kann ohne Schuldfrage angeschaut werden,
sobald die Zusammenhänge in ihrer Sinnhaftigkeit erfaßt werden können. Verwundung braucht nicht mehr als Makel, als persönliche Schuld, Verwundungsfolgen müssen nicht mehr als Folgen persönlichen Versagens
verstanden werden: Die “1.Umdrehung” (es liegt an mir) wird als Widerfahrnis verstanden und nicht als Zwang zur Selbstbeschuldung. Dadurch wird es möglich, auch mit den Menschen anders umzugehen, die an
den eigenen Verwundungen ursächlich (eben nicht: schuldhaft) beteiligt gewesen sind (24). Die Schuldfrage gaukelt vor, als sei Vergangenheit änderbar; nur die Sinnfrage lässt erkennen, dass wir aus dem Fundus der
Vergangenheit lernen können, uns hier und jetzt anders zu entscheiden (25).
Die Deutung verändert nichts. Sie lässt jedoch die Fähigkeiten von Menschen zu, Konkretionen zu finden für bisher Unaussprechliches, für heimliche
Vorausurteile, unterbewusste aversive Axiome, gedachte “Heilbringer”, die Anlässe genug bieten, die Selbstvorstellung über das Außen zu definieren, die Lernfähigkeit zu begrenzen, über Zweifel sich in
scheinbar unüberwindbarer Not zu wähnen und mit Hilfe von Projektionen Rettung von Menschen zu erwarten, die göttergleich Heil(ung) vermitteln sollen für Wunden (26).
“Nicht nur die ursprüngliche Prägung von Glaubenssätzen und -normen wird von unserem emotionalen Erleben und von Personstrukturen gesteuert, auch
die selektive Rezeption von Glaubenssätzen und -normen ist davon abhängig. Als potentielle oder tatsächlich Glaubende kommen wir aus einer bestimmten emotionalen Sozialisation mit Einstellungen, Wertungen,
Selbstbildern und Fremdbildern; wir haben bestimmte Botschaften unserer sozialen Umwelt internalisiert” (27).
“Nun ist unsere emotionale Prägung nicht etwas unabänderlich Gegebenes, sondern wir können sie durch personale Lernprozesse verändern und
korrigieren” (<28> für “verändern” reicht der nicht negativ angefärbte Begriff “ändern” völlig aus).
Eine Deutung ist stets mehrdimensional. Ein Denken in Kausalzusammenhängen ist gefährlicher als ein Denken in systemischen Zusammenhängen (Ernst
Petzold fügt hinter das Wort “ist” leider das Wort “möglicherweise” ein <29>).
“Assoziationen ... sind nicht mit Deutungen zu verwechseln! ... Assoziationen weisen lediglich auf mögliche Bedeutungen eines bestimmten Verhaltens
... hin. Sie können manches Mal als spekulative Konstruktionen helfen,”- sie sind dann auch als solche zu kennzeichen, z.B. durch die umgangssprachlich saloppe Wendung “ich fantasiere jetzt einfach
einmal so vor mich hin” -“oder sich mit Evidenzcharakter aufdrängen. Man vergesse aber nicht, dass die Evidenz eines sinngemäßen Zusammenhanges noch nicht die Realität ... ist.” Die Existenz
einer Idee, eines Gedankens, einer Assoziation beweist noch nicht ihre Wahrheit. “Was in vielen Fällen verifiziert wird, mag dieses Mal nicht stimmen” (30).
Der Philosoph Reiner Wiehl (31) formuliert als ein wesentliches implizites Axiom den wichtigsten Grundsatz jeder “psychologischen”
Deutungsarbeit: “Es kann alles auch ganz anders sein, mit mir, mit dem anderen, mit diesem und jenem.” An gleicher Stelle nennt er ein zweites Axiom, das als Leitwort für die noologische Arbeit gelten
kann: “Es gibt die Möglichkeit eines Lebens, das nicht ein Leben auf Kosten anderen Lebens ist.”
Lebensstile sind geschlossene Systeme. Deutungen bedrohen diese Geschlossenheit und wecken mit Hilfe von unterschiedlichen Retraktionen unterschiedliche
gedachte Gefühle (Sensationen), um die Bedrohung abzuwehren. Doch die Abwehr ist erfahrbar, der Widerstand erkennbar, deshalb selbst wiederum deutbar. Der Widerspruch des anderen muss (als logische Folge einer
tragfähigen Relation) möglich bleiben als offene, artikulierbare Antwort auf eine Deutung. Das bedarf jedoch auch einer klaren Absprache (Vereinbarung). Nur so kann die Individualität wechselseitig respektiert
werden: Das Gegenüber wird ohnehin als fremd erlebt in seiner Einzigartigkeit. Nur in einem geschlossenen System erscheint das Andersartige als fremd und von Irrtümern durchsetzt. “Darin liegt die Wurzel für
den Kolonialismus, ja grundsätzlich für eine Unfähigkeit zur Liebe, denn Liebe richtet sich auf Anderes als Anderes” (32).
Jede Deutung berücksichtigt, dass sie zwar keine Märchen erzählt, dass ihr Inhalt jedoch in gewisser Weise nicht existent ist für den anderen Menschen. In
der Noologie ist es hiermit ähnlich wie in der Mathematik, wie der Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Hans Julius Schneider im Hinblick auf die “Psychologie” sagt: “Z.B. ist die Rede von den
Zahlen
als denjenigen Gegenständen, für die die Zahlwörter der verschiedenen Sprachen stehen, sicher nicht einfacher zu erklären als die Rede von den Gegenständen der Psychologie. Wer nicht Platoniker ist ... wird leugnen, dass es Zahlen 'gibt', oder er wird zumindest die Notwendigkeit einer Differenzierung und einer Abgrenzung vom Fall der Fiktion andeuten, wenn er sagt: in gewisser Weise gäbe es sie (denn die Mathematik erzählt keine Märchen), in gewisser Weise aber auch nicht” (33).
Das Gegenüber einer Deutung ist in der Tat verbalisierte Erinnerung oder verbalisierte Beschreibung, wenngleich es auch Deutungen non-verbaler
Kommunikation gibt, die jedoch verbalisierbar und deshalb transformabel ist. Erinnerungen können trügen, Beschreibungen sind in der Regel selektiv. Deutungen selbst abstrahieren nun wiederum selbst, indem sie
gegenwärtig machen wollen, was vergangen ist. “Beim Vorgang der Abstraktion sind zwei Elemente Einfallstor der Subjektivität: das, was gerade weggelassen wird und der Kontext, den man auswählt oder
begrenzt” (34). “Nur in der Vergegenwärtigung der Dualität der ... Erfahrung” (mit dem ratsuchenden Menschen!) “und nicht in der naturwissenschaftlichen Abstraktion kann Deutung wahr
sein” (35). Deshalb ist eine ständige Vergegenwärtigung dessen, was die Ratsuchenden gesagt haben und die Wahrnehmung der Wunschphantasien der Deutenden als Korrektiv im jeweiligen Augenblick entscheidende
Hilfe zur Unterscheidung von Wesen und Wirklichkeit. Darin erweist sich eine Deutung eben auch als eine den anderen aufnehmende Deutung in einer den anderen annehmenden Offenheit. Das Wissen um das eigene
Ursprüngliche, um den eigenen “i-Punkt”, also nicht nur das Wissen um die der eigenen Menschlichkeit auch innewohnende Fähigkeit zu irren, um lernfähig zu bleiben, erlaubt eine Ermutigung, die nicht, ins
Phantastische hochgesteigert, das Gegenüber entmutigt. “Unter Ermutigung verstehe ich eine Art des Deutens und Antwortens, die” dem Gegenüber “unsere nie wankende Zuversicht in seine
Wachstumsmöglichkeiten ausdrückt” (36). Überspitzt lässt sich mit Viktor von Weizsäcker sagen: “Die unrealisierten Möglichkeiten, das ungelebte Leben ist die Kraft, die das Leben vorwärts treibt, zu sich
und das heißt: über sich hinaus” (37).
Das Wissen um die Verwundung und um den daraus resultierenden Lebensstil (eben als unbewusstes System) gibt die Möglichkeit, überzeugt und
überzeugend die Menschlichkeit des Menschen anzuerkennen, um darin die Möglichkeit für eine kritische Reflexion zu finden, die nicht Person und Verhalten identifiziert, die aufzeigt, dass gerade dann keine
Ausweglosigkeit mehr erscheint, wenn Mut als Quelle von Energien den Einlaß in eine neue Situation ermöglicht. Das ist besonders wichtig, wenn eine Deutung in offenem Widerspruch gegenüber geäußerten Gedanken der
Ratsuchenden not-wendig ist. Der Widerspruch verkommt zur Anklage, wenn die unbewusste Schuldfrage nicht aufgehoben wird, die den Widerspruch als notwendig erscheinen lässt, um eine drohende Degradierung abzuwenden,
also um eine mögliche Wiederverwundung zu verhindern. Der Widerspruch ist “rechtens”, doch die Gesprächssituation keine Gerichtsverhandlung (38). Die dem Gegenüber unbewusste Anklage, die ihn zum
Verteidiger und Ankläger werden lässt, muss erkannt und dann eben auch bestritten werden. “Wir erklären ihm, dass er nicht so ist, wie er zu sein glaubt” (39).
Ein solcher Widerspruch weckt Widerstand oder überraschendes Aufatmen (“aha”). Welche Antwort auch immer kommt, sie ist nicht vorhersehbar,
und jede steigert die Intensität des Gegenüberseins im Augenblick des Hier und Jetzt. Der Widerstand kann zum Abbruch der Beratungssituation führen (so auch die Vereinbarung), er kann jedoch auch zur Erfahrung
führen, dass Menschen immer noch mehr sind als eine Deutung oder ein Widerstand. Er kann zur Möglichkeit führen, Selbstbehauptung zu üben und sich in ihr neu wahrzunehmen als Menschen, die auch das Recht haben, sich
aversiv zu verhalten und die Folgen auf sich zu nehmen - d.h.: zu lernen unter erschwerten Bedingungen. Auch hierin können Menschen ihre Würde erfahren, die sie als so verletzt erlebten, dass die Lösung ihrer
Konflikte in weiter Ferne schien.
Das überraschende Aufatmen führt von der Deutung zur Erkenntnis durch die Einsicht in die eigene Verwundung und in die aus ihr resultierenden Folgen.
“Auf dem Hintergrund der Erkenntnis erlittenen Schadens, unwiederbringlicher Verluste, menschlichen Scheiterns und Verlangens erfährt er seine Würde, seine Lebensstrebungen, sein Recht als Lebender” (40).
Deutungen orientieren und erfassen sowohl die Asymmetrie wie auch die Symmetrie von lebendiger Ordnung (41). Dadurch wird es möglich, auch den Hintergrund
einer Konfliktsituation zu erfassen, um diese selbst im Zusammenhang des Lebensstils lokalisieren zu können. Die Konflikte erhalten bewusst ihren biographischen Ort, den sie sonst nur numinos haben, als seien sie
sozusagen “aus heiterem Himmel” als missliche Gabe eines ungerechten (oder gar blinden) Gottes namens Zufall über die Ratsuchenden herniedergegangen. Auch hier hilft die Enttarnung der unbewussten
Selbstbeschuldung zur Öffnung für Einsicht und Mut.
Durch die Deutung(en) sollen sich Menschen, die sich innerlich zerrissen und von Zweifeln (“zwie-fältig”) geplagt erleben, als eine Einheit
erleben dürfen, die die Mitte ihrer Persönlichkeit darstellt, die sie trotz aller Verwundungserfahrung eben doch in das Widerfahrnis von “leben” hinein orientierte und noch immer orientiert. Die
Ambivalenz (E. Bleuler) in der Selbstwahrnehmung, die eine Desorientierung vorgaukelt, wird im Horizont der Deutung des Lebensstils zum verstehbaren Ausdruck des Spannungsverhältnisses von ursprünglichen Anteilen
und deren Antibotschaften durch Verbote in der familiären Situation. Der mit der Ambivalenz verbundene doppelte Widerspruch (der Antibotschaft wie auch der Sehnsucht, die Antibotschaft überwinden zu können) kann in
der mitmenschlichen Dimension (des Verwundetwordenseins auch der verwundethabenden Menschen) verstanden werden, so dass die Situation der Entscheidung (griechisch: krisis) nicht mehr als Krise missverstanden zu
werden braucht.
Die eindeutigen Benennungen in jeder Deutung vermitteln so nicht nur zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein des Geistes, sondern eben auch zwischen den
Relationspartnerinnen und Relationspartnern in den nun bewusst gewordenen Anteilen der eigenen Erfahrungen. Hier gilt das oberste Gebot für jede Deutung (wie es Benedetti analog formuliert hat <42>): Eine
Deutung erfüllt ihre Aufgabe dann, wenn der deutende Mensch sich dafür entscheidet, in erster Linie für sein Gegenüber und nicht für andere zu deuten, “selbst da, wo sie eine partielle und unzulängliche
ist. Sie sieht nur Teile, aber sie führt durch die Beziehungen zum Ganzen des Menschlichen” (43).
“Die psychoanalytische Grundregel, die Aufforderung, alles zu sagen, was in den Sinn kommt, (kann) als Ausnützung erlebt (werden). Ein Gefühl der
inneren Entleerung, eines Substanzverlustes folgt der Mitteilung, wenn diese überhaupt möglich ist.” Auch wenn Benedetti (44) hier vom Widerstand bei Kranken spricht, so gilt dieser Hinweis ganz besonders für
die Konfliktberatung. Diese zielt auf Einsicht als Erfahrung der Erweiterung der Selbstwahrnehmung und damit eben auch als Erweiterung der Handlungsfähigkeit und: der Wahrnehmung der eigenen Freiheit. Die Wahrung
der Intimsphäre ist adversiver Bestandteil des Zusammenhangs von Deutungen, und das ja wohl nicht nur in einer Beratungssituation - dies sollte allgemeine Regel in der menschlichen Kommunikation sein. “Die
Deutung ist wie das menschliche Wort überhaupt: es entdeckt und schafft neue Möglichkeiten, indem es lebt” (45).
Zur Deutung gehört auch ihr angemessener Ort im Dialog mit den Ratsuchenden. Sie ist fehl am Platz, wenn sie sozusagen einen Punkt setzt. Sie hat ihren
Ort an der Stelle, wo die Öffnung zur Einsicht weiteres Fragen ermöglicht, wo wissbegier nicht als Symptom des Voyeurismus auftaucht, sondern als Lust am Denken, das verschiebbare Grenzen weiten hilft. Nur wer
hinhören kann, kann auch deuten; nur wer schweigen kann, ohne sich selbst zu verschweigen, also anwesend bleibt in seiner Menschlichkeit, kann deuten. Und: “Nur wen das Gespräch im wissenschaftlichen und
philosophischen Sinne verpflichtet, kann deuten” (46).
Hinhörende hören auch ihr eigenes Hören, Hinsehende sehen auch ihr eigenes Sehen, so auch Deutende: Sie deuten in der Deutung stets auch ihre eigene
Position und stellen sie gleichzeitig mit der Hingabe anderen Menschen vor. Deutung zwingt nicht, sie lädt ein zum Dialog, durch den Ratsuchende nicht eine fatalistische Kleinmütigkeit einüben, sondern die
Selbstannahme als die überraschende Wende in ihrer Situation erleben. Solch eine Erfahrung mag für manche völlig neu sein, für andere wiederum auch nicht.
Für jeden Menschen ist jedoch der Mut ergreifbar, Erfahrungen mit dieser Erfahrung der Selbstannahme zu machen, die es ermöglicht, die Unterschiedenheit
der Individuen nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung des eigenen Lebensraumes zu erfahren. Begleitet wird sie von einer neuen Sicht auf sich und andere, die dazu führt, dass Ratsuchende ihre Lernfähigkeit
gegenüber der Wirklichkeit erkennen als die Möglichkeit, sich von der Wirklichkeit belehren zu lassen und es der Wahrheit selbst zu überlassen, sich zu erklären (47). Sie erfahren in der Selbstannahme auch ihre
eigenen Möglichkeiten, ihre Konflikte auf eine Weise zu lösen, die die Menschlichkeit des Menschen bejaht (48).
Die Ziffern in Klammer beziehen sich auf Anmerkungen und Zitatverweise, im Original (Siebel “Umgang” 5.Aufl.) natürlich abgedruckt.
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